Archiviert: Wir trauern um Bernard Tagwerker (25.10.1942–8.2.2024) Nachruf
Bernard Tagwerker ist am 8. Februar 2024 verstorben. Er war von 1996 bis 2001 Zentralpräsident der Gesellschaft Schweizerischer Maler, Bildhauer und Architekten (GSMBA) und überführte diese in den modernen Berufsverband Visarte. 2002 wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft verliehen.
Bernard Tagwerkers Engagement für die Interessen der Schweizer Künstlerinnen und Künstler war aussergewöhnlich und bis zum Schluss ungebrochen. Wir verdanken ihm viel.
Seinen Angehörigen sprechen wir unsere herzliche Anteilnahme aus.
Bernard Tagwerker, der Meister des Zufalls ist gestorben. Ein Nachruf
Vor wenigen Wochen erzählte Bernard Tagwerker im Kunstmuseum St. Gallen vor einem aufmerksamen Publikum über die Siebzigerjahre und wie schwierig es damals in St. Gallen für junge Künstler mit neuen Ideen war. Es war sein letzter öffentlicher Auftritt: Am 8. Februar ist Bernard Tagwerker im Alter von 81 Jahren gestorben.
Noch im vergangenen Herbst zeigte er im Auto, dem Ausstellungsraum der Visarte Ost, eine exquisite Auswahl von Werken. Es war eine Retrospektive en miniature. Viele hätten ihm und sich gewünscht, dass sein einzigartiges Schaffen nach der Übersichtsausstellung 1997 im Kunstmuseum St. Gallen, nochmals in grösserem Rahmen gewürdigt werde. Doch gerade weil der Künstler immer wieder neue Wege ging, nutzte er Ausstellungen dafür, die jeweils neusten Arbeiten zu präsentieren. So stellte er einige Male in der Galerie Susanna Kulli aus, zeigte 2009 in Katharinen die auf Bézier-Kurven beruhenden, im Lasersinter-Verfahren erstellten Objekte oder 2012 im Architekturforum seinen Lebenslauf im Binärsystem. Zu den wichtigsten Auszeichnungen gehören 2014 der Kulturpreis der Stadt St. Gallen und 2018 der Kulturpreis der St. Gallischen Kulturstiftung.
Geboren wird Bernard Tagwerker 1942 in Speicher. Nach einer Ausbildung zum Textilentwerfer zieht es ihn nach Paris, wo er zwischen 1960 und 1967 bei André Lhote und in der Académie de la Grande Chaumière studiert. Hier lernt er Rose-Marie Hufschmitt kennen; ihr gemeinsamer Sohn Rodolphe wächst in Paris bei der Mutter auf. Bernard Tagwerker kehrt 1967 in die Schweiz zurück und lässt sich in St. Gallen nieder.
Bereits seine frühen Zeichnungen und Objekte, wie über den Flugpionier Berblinger, offenbaren ein Interesse an Technik. Erste Erfolge und Ausstellungen, z.B. in der Galerie Lock, erlangt er mit der vielfältigen Werkgruppe zum Thema Säntis, eine Persiflage auf das heimatliche Souvenirmotiv. In dieser Zeit lernt er Roman Signer kennen. Ein reger Austausch beginnt, der zwischen 1974 bis 1976 in vier gemeinsamen Arbeiten gipfelt. Legendär ist das Projekt «Bodensee und Säntis» von 1975 in Arbon, wo die beiden über dem See mit weissen Ballonen die Kontur des Säntis in den Himmel zeichneten. Roman Signer erinnert sich, wie Joseph Beuys mit seiner Entourage 1976 an der Biennale in Venedig das «Wasserzelt» bewunderte, ihre erste gemeinsame Arbeit. Tagwerker war da bereits nach New York abgereist, wo er fast zehn Jahre bleiben sollte.
New York
Kurz vor seiner Übersiedlung in die USA kommt es zu einer radikalen Abkehr von seinem bisherigen Schaffen, in deren Folge er alle Werke im Atelier mit weisser Lackfarbe übermalt. Gerne erzählte Bernard Tagwerker von seiner Skepsis gegenüber den Mythen, die sich um das Künstlertum, die Inspiration oder das «Seelenflattern an der Pinselspitze» rankten. Stattdessen beginnt er, seine zeichnerischen und malerischen Werke mit einfachen Zufallsmethoden zu berechnen. In New York beschäftigt er sich mit Computertechnologie und Programmiersprachen und eröffnet sich mit dem Kauf eines ersten Computers den Weg in die digitale Welt. Hier begegnet er dem Rapperswiler Künstler Alexander Hahn, der über ihre langjährige Freundschaft sagt: «Ein roter Faden verband uns unbestreitbar über mehr als vierzig Jahre: die Kunst, vor allem die damals noch junge digitale Kunst. Es war, als hätten wir eine längst begonnene Unterhaltung fortgesetzt, obwohl wir uns gerade erst kennengelernt hatten. Nie Smalltalk, sondern immer ein direkter Weg zu dem, was uns im Kern ausmachte.»
Privilegierung des Zufalls
Nach seiner Rückkehr nach St. Gallen 1985 wendet sich Bernard Tagwerker endgültig dem Einsatz des Computers zu und übergibt die Ausführung einem Plotter, den er als versierter Tüftler immer wieder umbaut. «Privilegierung des Zufalls» nennt er seine Arbeitsmethode, in der er als Künstler die Rahmenbedingungen wie Material, Bildträger, Farben und technische Methoden bestimmt, danach jedoch die Gestaltung der Werke von Zufallsprogrammen berechnen lässt. Auf die Materialisierung, teils auch in ganz traditionellen Medien wie Öl auf Leinwand, sollte er allerdings nie verzichten. Die Vielfalt an Werkformen ebenso wie ihre überzeugende ästhetische Wirkung sind immer wieder überraschend. So entwickeln einige Werke eine durchaus gestisch expressive Wirkung, sodass ihre maschinelle Entstehung kaum zu erkennen ist.
Manchmal allerdings schieden sich die Geister – so am nach Zufallsprinzip in Gelb und Grau eingefärbten Gebäudekomplex an der St.Leonhard-Brücke in St. Gallen, im Volksmund St. Leopard genannt. Weitere Kunst am Bau Projekte sind die farbige Fassadengestaltung an der Primarschule Botsberg in Flawil (1999) oder die Intervention im Psychiatrischen Zentrum in Herisau, wo er Zitate aus Robert Walser Schriften in Strichcodes umwandelte. Im Foyer der Fachhochschule St. Gallen ist seit 2018 eine mehrteilige Glasarbeit von 1996 installiert.
Bernard Tagwerker lebte kompromisslos für seine Kunst, zugleich setzte er sich vehement für ihre Bedeutung und für die Rechte der Kunstschaffenden ein. So leitete er in seiner Zeit als Präsident des schweizerischen Künstler- und Architektenverbandes GSMBA von 1996 bis 2001 zahlreiche Reformen ein und überführte den Berufsverband in die heutige Visarte.
Anregung fand Bernard Tagwerker zeit seines Lebens in mathematischen, wissenschaftlichen und technischen Fragestellungen, deren Spektrum sich parallel zur Entwicklung dieser Wissensgebiete stetig erweiterte und die ihre Spuren im Werk hinterliessen: von Zahlensystemen zu Bézier-Kurven, von Chaostheorie zu neuronalen Netzwerken, vom 3D- Druck zu kontaktlosen Laserzeichnungen. Bis zuletzt nahm Bernard Tagwerker an allem, was sich in der Kunst und in Technik und Wissenschaft bewegte, regen Anteil. Angesprochen auf die Beziehung zwischen Wissenschaft und Kunst sagte er mit einem charmanten Understatement: «Die Kunst ist eigentlich der einzige Ort, wo die Mischung eines geringfügigen Wissens über ein Gebiet mit einem Tun, als ob das Wissen doch ganz vorhanden wäre, funktioniert.»
Corinne Schatz, im Februar 2024